Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken – Die vier Psychischen Grundfunktionen in Psychotherapie und Individuation

Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken – Die vier Psychischen Grundfunktionen in Psychotherapie und Individuation

Unser Mitglied Frau Monika Rafalski hat Ihr Buch über die vier psychischen Grundfunktionen aus der Psychotherapie C. G. Jungs bei Kohlhammer veröffentlicht. Sie ist als Analytische Psychotherapeutin in eigener Praxis, sowie als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Stuttgart e.V. tätig.


Vorwort von Konstantin Rößler, Analytischer Psychotherapeut, Arzt für Innere Medizin, Dozent und Supervisor am C. G. Jung-Institut Stuttgart e.V.

In seiner 1920 verfassten Vorrede zu „Psychologische Typen“ erläutert C. G. Jung den Ausgangspunkt seiner Typologie. Sie entspringe den „unzähligen Eindrücken und Erfahrungen“ seiner ärztlichen Praxis, der „Auseinandersetzung mit Freund und Feind“ und der „Kritik der psychologischen Eigenart“ seiner selbst. Allen drei Säulen seines Konzepts liegen somit objektivierbare empirische Beobachtungen wie auch zutiefst subjektive Faktoren zugrunde. Sie beruhen auf Jungs Erfahrung, dass eine Reihe von Schwierigkeiten im Individuationsprozess wie auch in der Beziehungsgestaltung offenbar nicht auf pathologische Gründe zurückzuführen ist, sondern auf typische psychische Unterschiede zwischen den Menschen. Nicht zuletzt waren seine eigenen Erfahrungen im unumkehrbaren Zerwürfnis mit Sigmund Freud wahrscheinlich eine zentrale Motivation, sich mit diesen Fragen der persönlichen Passung zu beschäftigen.

Die daraus resultierende Typologie wurde eine Erfolgsgeschichte der Analytischen Psychologie. Begriffe wie Introversion und Extraversion sind längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, das Konzept wird modifiziert in der modernen Personal-und Organisationsentwicklung eingesetzt, und es findet auch noch ein Jahrhundert nach seiner Entstehung praktische Anwendung in tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Behandlungen.

Doch bereits im 1937 verfassten Vorwort zur 7. Auflage des Werks äußert C. G. Jung die Hoffnung, dass sein Buch Ergänzungen und Verbesserungen erfahren solle, die Untersuchungen erweitert und die begonnene praktische Anwendung in der therapeutischen Arbeit Berücksichtigung finde.

Mit ihrem nun vorgelegten Beitrag zu den psychischen Grundfunktionen erfüllt Monika Rafalski genau diese Anliegen, indem sie die moderne Entwicklung aufzeigt weg von einer traditionellen, mitunter einengenden Festlegung auf Typen mit sogen. Hauptfunktionen, hin zu einem flexiblen Umgang mit den vier psychischen Grundfunktionen, die der Orientierung und zentrierenden Ausrichtung des Ichs dienen. Ihre Ausführungen sind die Quintessenz einer langen therapeutischen Erfahrung und Anwendung des ursprünglichen Konzepts der psychischen Grundfunktionen, aber auch einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema und seiner ganz eigenständigen und originellen Weiterentwicklung in der Lehre an zahlreichen deutschsprachigen und internationalen Instituten der Analytischen Psychotherapie. So kann der Text als Lehrbuch zum Verständnis der psychologischen Grundfunktionen dienen, lässt aber gleichzeitig den Leser das Oszillieren zwischen den verschiedenen Qualitäten des Empfindens, Intuierens, Fühlens und Denkens unmittelbar erleben. Es ist gelungen, die Funktionen eng eingebunden in einen philosophischen und wissenschaftlichen Kontext zu formulieren, aber ihre Darstellung auch mit den jeweiligen Qualitäten zu verbinden, was ganz besonders deutlich bei der Fühlfunktion wird, wo die Zitate tatsächlich beim Lesen direkt etwas von der Qualität der Funktion vermitteln. Auch für die Denkfunktion – bei aller Kritik an ihrem Übergewicht infolge einer falschen Auslegung  in unserer Zeit – wird ein differenziertes Verständnis entwickelt, das weit über die üblichen Betrachtungen hinausgeht. In dieser Form und Dichte wurde das Thema bisher noch nicht beschrieben. Es finden sich zahlreiche Amplifikationen und Verweise auf bildhafte, symbolische, mythologische und erzählende Bezüge neben einem sehr präzisen Umgang mit den Begrifflichkeiten und einer Einordnung in den historischen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Kontext. Daraus ergeben sich immer wieder ganz überraschende Einsichten bis hin zu wichtigen Beiträgen zur aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion und Konsequenzen, die aus vereinseitigten Perspektiven auf die Polarität von Gesundheit und Krankheit resultieren können.

Nicht zuletzt wird ausführlich auf die therapeutische Anwendung eingegangen. Anhand anschaulicher praktischer Beispiele und eigens entwickelter Methoden wird aufgezeigt, wie der Zugang zur individuellen Ausrichtung der psychischen Grundfunktionen diagnostisch und therapeutisch genutzt werden kann. Gerade mit diesem Beitrag gelingt es, eine wichtige Lücke in der Literatur zu C. G. Jungs Funktionenlehre zu schließen und den Anschluss eines fast hundert Jahre alten Konzepts an den aktuellen Erkenntnisstand und die Erfordernisse einer modernen Tiefenpsychologie herzustellen. „Empfinden, Intuieren, Fühlen, Denken. Die vier psychischen Grundfunktionen in Psychotherapie und Individuation“ wird daher für Therapeuten wie für Studierende und Lehrende und alle an der Tiefenpsychologie Interessierten eine Bereicherung sein.

 

 

Monika Rafalski ist als Analytische Psychotherapeutin in eigener Praxis sowie am C.G. Jung-Institut Stuttgart als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin tätig.